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«Das Internet, Version 2000»
by Greg Lemmenmeier, posted on 26. December 2000 at 12:00, 10081 ViewsErschienen im Jahr 2000 im Web-Trendletter "Netzwetter", von Greg Lemmenmeier, rund 3000 Abonnenten, hier lediglich als Archiv und Suchmaschinen-Futter publiziert.
Dies wäre es also gewesen, das erste Jahr der Zukunft. Und wo bleibt die New Economy? Mit den wertlos gewordenen Pennystocks der Internet-Firmen könnten wir jetzt optimal den Winterofen heizen. Ist dies schon das Ende des Internet-Booms? Keineswegs, und keine Sorge. Es ist nicht das Ende, sondern das Ende vom Anfang.
Und das ist gut so. Denn manchmal dauert es etwas länger, bis sich die Sachlage klärt. Nicht dass uns jetzt die US-Wahlen interessieren, aber die USA ist nun mal das Pionierland des Internets, für uns das wichtigste Lernmodell und Standort der wichtigsten Internet-Verwaltungen. Der neue Präsi wird so manches Machtwort zur weiteren Entwicklung des E-Commerce sprechen dürfen. Auch wenn er bloss mit einer einzigen Stimme Vorsprung gewann - und dies war die 5:4 Stimme des (republikanischen) Supreme Court Richters Rehnquist - aber Clinton geht sowieso. Und damit ist auch die Affäre Monica vom Tisch, auch diese Story wurde durch die massive multimediale Verbreitung zum Meilenstein in der Internet-Geschichte. Und ganz egal welcher Tisch und welcher Bush, der neue Präsi war jedenfalls nur zweimal im Ausland. Dieses hiess Mexiko und den Rest der freien Welt kennt er bloss vom CNN. Eine sinnvolle Internet-Politik basiert hingegen auf globalem Denken, also dürften die Amis die nächsten 4 Jahre ihr ganz eigenes Web machen. Unter Clinton zelebrierte man ja vorwiegend den Glauben an den wirtschaftlichen Aufschwung - mit dem Resultat dass viele der hochgehypten Dot-Com Firmen ins Jammertal stürzten und sich alsbald in Konkursmasse auflösten. Was werden die Amis also jetzt mit dem Internet anstellen, und wer verdient wessen Geld? Schliesslich kaufen wir Europäer tüchtig bei den US-Webshops ein und überholen auch bald in der Web-Nutzung. Bis dahin könnten wir aus den amerikanischen Fehlern lernen. Jenseits des grossen Teichs sagt jetzt die Old Economy der New Economy, wie die Wirtschaft funktioniert. Ob man daraus etwas lernt, wird sich im 2001 abzeichnen.
Aber schauen wir noch ein allerletztes Mal zurück:
Das Jahr 2000 begann mit einem Problem und hörte mit einem anderen auf. Am Anfang stand der Millenium Bug und am Ende die Dot-Com-Pleitewelle. Zwischendrin war der Frühlings-Boom mit sensationellen Börsen und rotierenden Venture Capitalists, und ab Herbst dann die Abstürze der Internetaktien auf breitester Front sowie massive Nachfragerückgänge bei PC's, IT- und Web-Firmen. Die Abhängigkeit der Wirtschaft vom Zaubermedium Internet wurde in Frage gestellt.
Die Katastrophe der Dot-Com-Industrie begann im Mai. Noch im März waren viele Internet-Aktien bis auf unvorstellbare 600 Prozent gestiegen und die Anleger meinten tatsächlich, dass jede Jungfirma mit drei Programmierern, einer Espressomaschine und einer Internet-Idee 50 Millionen wert sei. Also machte man einen tollen Business-Plan, füllte diesen mit Wortblasen wie "global distributed turnkey e-commerce portal initiative" und präsentierte sich mit dem ganzen argumentativen Unfug einem noch viel naiveren Publikum. Mit Incubators und den damals genauso gierigen Banken wurden die Start-Ups total vorzeitig an die Börse gebracht, wo sofort der grosse Geldhahn aufging und die Jungs mit enormen Summen von "Spielgeld" überschüttet wurden. Dann klopfte man wiederum bei den Banken an, wo dank der Börsenkapitalisierung noch mehr Kredite geholt wurden. Jetzt hockten die Jungs auf so viel Geld, dass sie vergassen wie sie noch vor einem halben Jahr auf ihren geleasten Laptops herumgeklappert hatten, der Gründertraum wurde Realität und die Kohle wurde mittels "Cash Burn" sogleich verheizt: Mit teurem aber ineffektivem Marketing, mit schnellstmöglicher Expansion, mit hektischer und unsorgfältiger Personalrekrutierung, mit Gerichtskosten, mit hochgestylten Designerbüros oder gleich ganzen Gebäuden - und vielerorts mit Luxusautos und Kokainparties für die erst 25-jährigen Bosse. Es war eine Riesenparty und die Anleger glaubten, dass alles profitabel werden würde, man müsse nur lange genug warten. Aber im Mai bekam der schwedische Mega-E-Tailer boo.com plötzlich keine Nachfinanzierungen mehr und konkursierte unter Buhrufen mit 135 Millionen Verlust. Andere Firmen in USA und UK folgten in Abständen von wenigen Wochen, und fielen dorthin zurück woher sie gekommen waren, ins Bodenlose. Da gerieten die Kapitalgeber in Panik und der Markt entschied, dass solch pubertäres Business keine Investition sondern blinde Spekulation sei.
Die Zusammenfassung des gesamten IT-Marktes 2000 sieht gemäss CNN vernichtend aus: Die Software-Titel verloren durchschnittlich 35%, Telekom-Titel 38% und Internet-Titel 50% bis 99%. Die Firmen im Bereich "Business-to-Consumer" verloren durchschnittlich 85% und diejenigen im "Business-to-Business" 45%. Sogar manch hoffnungsvolle Firma, wie die per TV-Spot beworbene letsbuyit.com, machte ihren Namen zum Gegenteil und ging genauso pleite.
Andere schafften es, aber nur wenige haben eine realistische Zukunft. Es ist, wie wenn ein paar verrückte Wissenschaftler ein paar hundert neue Tiere züchten und diese in einem tropischen Dschungel aussetzen, nur um dann zu sehen welche Kreaturen überleben können. Bei den Internetfirmen spricht man langfristig von höchstens 3 Prozent, der ganze Rest der "Tiere" verhungert, ersäuft, mutiert sich zu Tode oder wird von den Pleitegeiern gefressen. Nur dass es so wahnsinnig schnell ging, das war der Schock. Das ganze Experiment kostet viele hundert Millionen und auch das Vertrauen der Kundschaft wird dabei erschüttert. Kinderkrankheiten bei einer neuen Technologie oder einem neuen Medium sind normal. Auf dem Internet versucht man jedoch eine schwierige Umstellung zu vollbringen, vom fast kostenlosen Kommunikations- und Fun-Medium zum zahlungspflichtigen Markt- und Einkaufsmedium, welches auf der Vision basiert dass man die langjährigen Gewohnheiten aller KonsumentInnen ändern kann. Aber genau das ist schwierig und braucht mehr als 5 Jahre, das hat man jetzt begriffen.
Das Jahr war von Staunen geprägt.
Zu Beginn erlebten wir verwundert einen Bug, welcher nichts anrichtete ausser den IT-Firmen die Auftragsbücher mit zweistelligen Milliardensummen zu füllen, im Januar die Fusionsankündigung von AOL und Time Warner, im Februar die DoS-Hackerattacken bei den "drei Grossen" (Yahoo, eBay, Amazon), im März die Ankündigung der X-Box, im Mai den verheerenden Love-Letter-Virus mit 12 Mia Schaden aufgrund von Microsoft Outlook, im Juli die angedrohte Schliessung von Napster und Diskussionen über die Zukunft von Peer-to-Peer, im August die Version 2 des Marketing-Games Moorhuhn, im September die Rettung von Napster durch die Bertelsmänner, im Oktober den Hack gegen Microsoft, im November die Freigabe von sieben neuen Domain-Endungen durch ICANN, und zwischendurch noch das planetproject.com als erste weltweite Volksbefragung. Das "echte Leben" lief wie immer parallel dazu ab und war geprägt von den Begriffen Millenium, Lothar, Concorde, Putin, Kursk, Sydney, Benzinpreise, Expo, Milosevic, Gondo, Harry Potter, BSE, Big Brother und US-Wahlen. Es wurden 850 Naturkatastrophen registriert, rund 100 mehr als im bisherigen Rekordjahr 99, und alle sprachen von der Zukunft und vom Internet wie wenn beides dasselbe wäre.Buzz Buzz...
Die IT-Buzzwords des Jahres waren WAP, UMTS, Konvergenz, CRM, ASP's und Content Providers, offene Standards wie XML/XSL und Linux/KDE, der Dot-Com-Boom und natürlich E-Business in allen Varianten von mobil bis instabil. Verkauft wurden vor allem Bücher, Musik und der Rest via Auktionen. Publikumserfolge waren SMS, P2P, Online-Games, Plattformen für Preisvergleiche und jede Menge Wettbewerbe und Lotterien wie grab.com. Die Marketingleiter beobachteten aufmerksam die Erfolge des Viral Marketing beim "Moorhuhn" sowie erfolgreiche "Recommend-It" Strategien. Das grösste Medienereignis war die Fusion von AOL und Time Warner und der damit bald entstehende grösste Medienkonzern der Welt. Die umsatzbesorgten Zeitungen stockten ihre Online-Versionen auf und brachten schnellstmögliche Aktualität. Es wird immer noch viel gelesen - vor allem Presseartikel und Börsennachrichten. Am Anfang war das Wort, nicht etwa die GIF-Animation und auch nach Beginn des kunterbunten Surf-Jahrtausends halten wir uns an den schnöden (Hyper-)Text. Wir warten auf den Durchbruch von Multimedia in allen Bandbreiten. Flash, das Format mit der höchsten Skip-Rate, macht weiterhin mehr Lärm als Musik, ist aber auf dem Vormarsch und löst Java und DHTML zusehends ab. Das Multimedia-Format hat zwar bei einigen Sites zur Verdoppelung der Besucherzahlen geführt und sich zu einer eigenen Kunstform für Web-Kurzfilme entwickelt, ist aber bei E-Commerce Experimenten gescheitert. Es muss nicht alles dynamisch sein, das sind wir selber und beim Shoppen sowieso. Auch mit Streaming-Angeboten lässt sich noch kein Blumentopf gewinnen, grosse Webcaster gingen pleite (scour.net, pseudo.com) und warten auf ein schnelleres Netz - erst in 4 Jahren haben solche Portale eine finanzielle Überlebenschance.
Der meistgesuchte Suchmaschinen-Begriff war "MP3" (bei Lycos wars Britney Spears und Dragonball), Yahoo Business hat sich zur meistbesuchten Finance-Site gemausert und bluewin.ch wurde dank der Kuschel-Mobbing-Show "Big Brother" zur erfolgreichsten Website der Schweiz. Microsoft hat den Prozess wegen Kartellbildung und auch sonstiges verloren (wir verkneifen uns jedes Lachen), der MSIE wurde zum Quasi-Standard, und jedem wurde klargemacht wer inskünftig auch das Online-Fernsehen dominieren will. Intel beschleunigte die Prozessoren von 750 MHz auf 1,5 GHz und machte erst wieder Halt beim P4, der leider ziemlich "aufwärtskompatibel" geraten ist. AOL bescherte uns dann noch den Netscape 6, ganz logisch dass dieser ein Bugstar ist denn er war ja angekündigt als "Final Release" und es ist tatsächlich der letzte Browser. Die Suchmaschinen wurden noch mehr verstopft und Google.com machte uns einige Hoffnung, aber auf eine "Findmaschine" wartete man vergebens. Genauso wie auf brauchbare Marktprognosen, die aussagekräftig sind oder mehr als 2 Monate gültig. Ha.
Die IT-Profis freuten sich über das arg verspätete Windows 2000, wobei viele Firmen mit der Migration noch zuwarten und schauen, wie Microsoft mit der .NET-Initiative das neue Betriebssystem in Fahrt bringt. Die Webnerds freuten sich über Dinge wie Dreamweaver4, PhotoImpact6, RealPlayer8 und das Überleben von Napster, die Kids über Playstation2 und die neuen Aibos, und die Flops des Jahres waren Netscape6, P4 sowie die merkwürdig selbstverschuldete Megapleite von gigabell.de. Es gab endlich neue Domain-Endungen von ICANN und günstige Angebote für den schnellen Web-Zugang: Bereits ein Drittel aller Schweizer Kabelanschlüsse sind Internet-tauglich. Wir bevorzugen für das gediegene Temposurfen die CableCom Technologie (Maximaltempo 43M/10M) gegenüber ADSL (Maximaltempo 8M/0,8M) welches erst in 7 Städten angeboten wird und etwas teurer ist. Ob langsam oder schnell, das ganze Netz-Werk entwickelt sich. Es gibt weniger Platz für Fehler, die Anbieter und Start-Ups werden vorsichtiger und das ist gut so.
In den Sitzungszimmern der Web-Industrie wurde fleissig expandiert, fusioniert, restrukturiert, finanziert oder konkursiert. Die Internetfirmen besannen sich wieder auf ihre Buchhaltung und verschoben ihre IPO's und Gewinnprognosen. Viele Business-Modelle wurden umgekrempelt von B2C nach B2B, und der Begriff der Wertschöpfungskette wanderte von Value Chain über Value Net bis zu Value Web. Im Wettbewerb zwischen den Firmen erkannte man den Sinn von Partnerschaften zwischen Konkurrenten, und man betrieb nicht nur die Competition sondern auch "Co-opetition" als Wortschöpfung des Novell-Gründers, oder "cCommerce" als Collaborative Commerce gemäss jdedwards.de. Aufgekauft wurde eigentlich alles was eine grosse Kundenbasis hatte oder eine grosse Zahl von Abonnenten, fast egal in welchem Segment. Hauptsache mehr Besucher und grosse Email-Datenbanken, das Angebot wurde dann später zurechtgeschneidert. Gleichzeitig merkten die Anbieter, wie wichtig die Kommunikation ist und dass man Kunden nicht mit Grafiken gewinnt sondern mit Kundendienst, Call-Centers, gutem Text und einer transparenten Geschäftspolitik. Wer im unpersönlichen Medium Internet nicht in einer "persönlichen" Weise auf die Kunden eingehen kann, geht ein. Die Stickiness, also wie stark ein Web-Angebot seine Besucher an sich bindet, wurde zum wichtigsten Faktor und "let's make it sticky" ist Bestandteil jeder grösseren Web-Strategie geworden. Vertrauensbildende Infos, Offenheit und Ehrlichkeit, Privacy Policies und Partnerschaften mit Mitbewerbern sind die neuen Erfolgsfaktoren - und haben wenig mit den grafischen Finessen zu tun. Aber die Kunst des zielgruppengerechten Kommunizierens ist ja auch eine Art "Design".
Im neuen Jahr wird sich noch klarer zeigen, wer bisher nur elitär geblufft hat, und wer im jetzt härter gewordenen Web-Spektrum ein Talent in allen Disziplinen vorweisen kann. Oder wie es ein bekannter US-Analyst ausdrückte: "When the water runs off, you can see who is swimming naked."
Die Prämisse heisst nicht mehr Schnelligkeit beim Eroberungskampf, sondern Nachdenken beim Rechnen. Die Web-Workers arbeiten täglich noch viel länger und verbünden sich, anderen geht die Lust und das Geld aus. Der E-Commerce entwickelt sich langsamer und ist aufs Schlimmste gefasst: Stille Nacht, der Schnee deckt es zu und im Cyberspace ist Ruh'. Denn alle haben es versucht. Und eben weil es so viele versucht haben, hängen jetzt so viele Firmen und Startuppers reglos im Netz. Nach Jahresbeginn 2001 wird ein weiterer Shakeout erwartet. Leider werden dabei wieder ein paar Milliarden Geld vernichtet und die Börse schwankt schwer unter solchen Exzessen. Die New Economy hält alle Türen offen - und für jeden mit Experimentierfreude. Das Experiment besteht nach wie vor darin, wie man die Anleger davon überzeugen kann dass man die Kunden überzeugen kann und ohne Business-Erfahrung seine Firma im schnellstwachsenden Markt dieser Welt in die Gewinnzone führt. Das war jetzt ein langer Satz, aber lesen Sie mal Business-Pläne von Start-Ups. Wenn schon virtuell, dann auch das Business-Modell.
Die vielen zynischen Todeslisten wie downside.com wurden zur wichtigsten Infoquelle für die Investoren. Die Pleitewelle lag vielleicht an den zuvielen kopierten Ideen, an den Banken welche den munteren Boygroups plötzlich die Kreditlinien kappten oder an den ungeduldigen Börsenanalysten, welche nicht länger auf imaginäre Gewinne warten mochten. Ob es deswegen unterm Kalenderstrich ein Verlust war, das diesjährige Net-Business? Natürlich nicht, es war ein Riesengewinn für die wenigen Grossen. Und für diejenigen Firmen, welche für E-Business-Kunden die Server bereitstellten, damit diese ihr Geschäftsmodell aufs Web verlagern konnten. Sowie auch für die Enablers, Incubators, Consultants und all die schlauen kleinen Firmen in den Marktnischen. Vor allem war es ein Gewinn von vielen Erfahrungen für 2001 - die nächste Odyssee im Cyberspace.
Neue Gesprächsthemen sind Gewerkschaften bei den entlassungswütigen Dot-Com-Firmen, eine wachsende Zahl von gefrusteten Web-Aussteigern sowie der ebenso erschreckende Nachfragerückgang bei der Hardware, sprich Personal Computers. Grosse Hersteller wie Compaq, Gateway, AMD, Hewlett-Packard, Lucent und Dell veröffentlichen stark rückläufige Zahlen und bangen um ihre Absatzmärkte. Maxdata macht die anhaltende Euroschwäche verantwortlich. Microsoft war zum Jahresanfang noch 550 Mia wert und jetzt bloss noch 270 Mia. Dafür hat Apple mit vielen bunten oder sogar kubischen Macs aufgeholt - aber es werden einfach zuwenig Computer gekauft weil die alten immer noch "gut genug" sind. Auch die Einkäufe bei den hoch fremdfinanzierten E-Shopping Portalen laufen für die meisten Anbieter schleppend. Schuld daran sind allzu umständliche Produktkataloge, hohe Versandkosten, komplizierte Zahlungssysteme und auch die Tatsache, dass der Kunde beim E-Shopping die Ware nicht anfassen kann. Wie verkauft man Unsichtbares? Nur mit Printwerbung oder teuren TV-Spots (und hohem Streuverlust) wird das nötige Massenpublikum noch angezogen. Das Weihnachtsgeschäft, schon vor Monaten als Jahresspitze im globalen E-Commerce prognostiziert, wird vieles entscheiden. Der Frühling wird dann umso klarer sein.
Goldgräberzeit? Alle steigen in den gleichen Bach, die einen kommen raus mit zerrissenen Hosen, die zweiten mit den Taschen voller Kredite und die dritten mit den Händen voller Gold. Aber wer verdient eigentlich das grosse Geld im Internet? Junge Börsenmilliardäre wie der Amazon-Gründer Jeff Bezos, der Yahoo-Gründer Jerry Yang oder der erst 20-jährige Napster-Gründer Shawn Fanning. Aber die allergrösste Goldmine und der lukrativste "Claim" auf dem ganzen Web ist die momentan vieldiskutierte Abzockerdomain sex.com, welche dem unrechtmässigen Besitzer gleich ein paar Milliarden Gewinn einbrachte. Und für dieses Geschäft brauchte es nicht einmal einen "Business-Plan". Dass das Internet von der Vorstellungskraft und weniger von der Realität lebt, eine Binsenwahrheit welche die Dot-Com Investoren erst gegen Jahresende begriffen. Trotzdem ist das Web unsere liebste Arbeitsfläche. Und wo so viel nebeneinander Platz hat, wächst eben vieles.
Die Internet-Wirtschaft wuchs im 2000 auf rund 540 Mia Dollars, erzeugte 650'000 neue Jobs (davon jetzt 10'000 in der Schweiz) und erzeugte bereits 41'000 Entlassungen bei den Dot-Com Firmen (vor allem in Kalifornien). Ein Vergleich von Angebot und Nachfrage zeigt uns zum Jahresende 2,7 Milliarden Web-Seiten für 300 Millionen Web-Users. In der Schweiz sind es gerade mal 2 Millionen Users und 20 Millionen in Deutschland, angeführt vom ewigen Neueinsteiger Boris Becker. Jeder User schaut sich bloss 2 Seiten einer Website an, die Banners werden zunehmend ignoriert, jedes zweite Flash wird eh übersprungen und für eine gute Suchmaschinen-Platzierung braucht es wochenlange Arbeit. Die Aufmerksamkeit für das eigene Web-Angebot ist zur wichtigsten Überlebensfrage im Markt geworden. Das Web hat den Reiz des Neuen verloren, der erste Webserver kommt in den Weltraum und so weiter. Das grösste je erschaffene Netzwerk von Netzwerken durchdringt fast unmerklich alle Lebensbereiche von Kommunikation über Wissenschaft bis zur Unterhaltungsindustrie. Die Welt ist eine Scheibe, eine Kugel, ein Netz. Wir sprechen alle von der "virtuellen Realität" und wissen ganz genau, was das sein soll.
Seit Jean Polly 1992 den Ausdruck "Internet Surfing" erfand (siehe netmom.com), ist der Sport-Begriff des "Surfens" zu einer eher unsportlichen Sitzbeschäftigung geworden. Und zum Synonym für eine kaum mehr zu beschreibende Vielfalt von Angeboten und Interaktionen. Das neue Weltmeer, oder der Datenozean auf dem man "surfen" kann, wurde erst von Studenten, dann von Firmen und Privatbastlern kultiviert und erweitert - dann kamen die E-Commercler und wollten den ganzen Kult in eine schnelle Geldmaschinerie verwandeln. Denn jede Phase des abenteuerlichen Entdeckens mündet in eine Phase der Kolonialisierung. Buchstäblich aus dem Nichts entstanden flippige Mega-Unternehmen, und die traditionelle Konsumgüter- und Medienwirtschaft sah ihre angestammten Marktanteile mit Entsetzen dahinschwinden. Jetzt übernehmen sowohl die "Old Economy" (Grosskonzerne) sowie die "Old Media" (Bertelsmann und andere) wieder die Zügel - und damit ist wohl alles wieder in Ordnung.
Aber der Enthusiasmus und die Entdeckerfreude "im Netz" ist vielen Leuten abhanden gekommen und man nervt sich über die täglichen 30 Spam-Emails, auch UCE genannt. Das Medium Nummer 1 ist immer noch TV (bis zu 10 Lebensjahre hockt ein Durchschnittsmensch insgesamt vor der Kiste), Medium 2 die Presse, Medium 3 das Radio und Medium 4 das Internet. Das vierte Medium. Und in 10 Jahren soll es das einzige sein. Anders als das Fernsehen ist das Internet ein Instrument, mit dem wir die Wirklichkeit kooperativ gestalten und handelnd verändern können. Dabei soll die soziale Wirklichkeit nicht vergessen werden, aber jede Firma will ja zuerst noch ihr Stück vom Profitkuchen.
Die grossen Kundenfirmen verlagerten ihre B2B-Entwicklungen nach "intern" statt nach Indien, reduzierten ihre Budgets fürs Outsourcing und erhöhten den eigenen Expertenbestand. Der Arbeitsmarkt schwankte zwischen fiebrigen Start-Up Rekrutierungen, neuen Schulungszentren mit Schnellkursen, E-Learning, Teleworking und Entlassungswellen bei den Dot-Coms. Das Image der Web-Workers wandelt sich ebenfalls... wenn man dem Nachbar sagt man sei in der Internet-Branche, schaut der einen so schräg von oben an, wie um zu fragen "und was arbeiten Sie?". Noch immer herrscht vielerorts das Berufsimage des koffeinsüchtigen, quadratäugigen und vor allem ziellosen Webfreaks. Dabei gibt es diese Spezies kaum noch, es sind gemäss letzten Studien eher die 35-jährigen Männer in Armani-Sakkos als die Nerds in Nikes, welche "das Internet machen". Und die ganze Industrie, also eben Webdesign und so, ist bereits grösser als die gesamte Versicherungsbranche. Und dort schaut einen kein Mensch schräg an.
Die Bezeichnung "Geek" für den nimmermüden Webfreak hat sich gewandelt vom Four-Letter-Word zum Six-Figure-Term und manche dieser Typen verdienen mehr als jeder Chefarzt. Die führende Firma für Netzwerktechnologien Cisco wickelt bereits 90 Prozent der Kundentransaktionen übers Web ab und dell.com macht Tagesumsätze bis 3 Mio Dollars - über eine Website. Realität ist wieder in Mode und auch das Image der Web-Entwickler wird sich bessern, trotz der ganzen Dot-Com Geschichte. Spätestens dann, wenn der Nachbar auch einen Anschluss kriegt.
Wir wünschen uns aber, dass die einstigen Versprechungen endlich eintreffen: Alle Menschen werden zu friedlichen Netzbürgern und mailen, wappen, surfen, chaten und teleworken mobil von jedem Standort aus. Die Wirtschaft interaktiviert sich gegenseitig, das Netz wird schneller und entrümpelt sich selbst, die Compis oder Palms sind modisch gestylt im Jackettkragen eingenäht und die klobigen Desktop-Monitore werden zu eleganten Headsets. Websites können sprechen und dies in allen Fremdsprachen. Derweil flitzen virtuelle "Bots" und Moderatoren unserem Mauszeiger nach und helfen uns freundlich beim E-Shopping. All dies soll ja kommen. Und wer schon wieder einen Business-Plan für seine einzigartige, weil grandiose Internet-Idee hat, schafft vielleicht den Weg vom "Plan" bis zur Realisierung.
Es ist eben nur eine Planwirtschaft, die zum Jahresende 2000 immer weniger aufging: Aus Dot-Coms wurden Dot-Gones, die Portale wurden echt zu gross, die virtuellen Marktplätze und B2B-Portale krankten an mangelnder Infrastruktur und der M-Commerce wird zu teuer weil nach den UMTS-Versteigerungen zuwenig Millionen übrigbleiben für den Aufbau der Sender. Der Aufbau der Mobiltelefonie der dritten Generation UMTS kostet die Telekom Unternehmen Milliardensummen. Diax/sunrise will rund 1,5 Mia investieren, Orange 1 Mia und Swisscom 1 Mia, während Ericsson die Technik liefert. Aber bis UMTS profitabel wird und die Wahnsinnskosten wieder drin sind (schwierig mit den sinkenden Gebühren), vergehen etliche Jahre. Leider musste alles schnell gehen, man nennt das Fortschritt und irgendwann wird alles zusammenpassen und Geld einspielen. Aber dass man zuerst eine unerprobte Technologie anheizt und dann auf die Nachfrage seitens der Kommunikationsjunkies wartet, das ist ein Spiel sondergleichen. Auch WAP, das sich ja im 2000 hätte durchsetzen sollen, steckt noch immer in den Startlöchern und das Publikum weiss noch nicht so genau, was es bringt und wer.
Gefloppt ist auch die Vision, dass das Jahr 2000 und der dazugehörige E-Boom einen Schlusstrich unter sämtliche Kommunikationsprobleme der humanen Spezies setzen würde. Man spricht über die Digitale Kluft, schult die Senioren, schliesst die armen Länder auch noch an und beäugt kritisch den steten Zulauf der Frauen, welche in den USA bereits 50 Prozent Useranteil haben. Mehr Frauen als Männer auf der Datenautobahn? Dass die Frauen besser Autofahren können ist inzwischen bekannt, und so soll es geschehen: Die einsam surfenden PC-Helden kriegen endlich Gesellschaft. Und vielleicht gehen die Frauen ja vernünftiger um mit dem Web - oder konzentrieren sich, wie bisher beobachtet, vorwiegend aufs "Chating and Shopping".
Inzwischen wächst unser aller Web täglich um weitere Schichten oder 7 Millionen Seiten, derweil sich darunter der Müll aus längst veralteten Seiten hochsedimentiert. Elektronische Friedhöfe. Heute topaktuell, morgen liegengelassen - auch "HTML" genannt. Auf dem Web kann in 24 Stunden viel passieren und während die einen schlafen, baut man auf der anderen Seite der Erdkugel schon weiter. All dieses Tages- und Nachtwerk wartet auf klickende Zeigefinger, denn nur damit wird es "interaktiv" und ist ansonsten nur Magnetismus auf irgendeiner Serverplatte. Mit dem Zeigefinger, dem überhaupt wichtigsten Körperteil des digital vernetzten Menschen (digitalis heisst ja Finger) managen Sie vielleicht bald auch Ihr Haus, Ihren Job und Ihr soziales Netz. Wer wohl die Finger nächstes Jahr noch im Internet-Business hat oder mit beiden Händen Gold schaufelt - es steht in den Sternen und die bringen Glück - das wünscht man sich ja zum neuen Jahr.
Ach ja, der Jahrtausend-Bug. Weder beim Bund, bei KKW's noch bei IT-Firmen werden diesmal Störungen erwartet. Einzig die Schweizer Papierindustrie hat wegen dem Lothar-Sturm vom letzten Dezember einen extremen Papiermangel, so dass es für die Neujahrskarten kaum reicht. Schicken Sie Ihre Grüsse halt digital statt papierig, aber ohne Viren denn diese verstecken sich immer häufiger in Anhängseln wie "doc, exe, vbs" und neu auch "swf". Papier ist geduldig und das Web sowieso. Im letzten Jahr wurde auch die Rechtschreibreform arg in Frage gestellt, viele mögen das Auseinander Schreiben (gesehen?) einfach nicht und schreiben wieder so wie einst in der Schulzeit gelernt. Hart am Rande des Rinderwahnsinns versuchen es andere mit der stetigen kleinschreibung oder gleich alles GROSS, vor allem in Emails. Aber wir lernen täglich dazu.
Die Zukunft? Eines Tages werden Sie mehr als fünf IP-fähige Geräte an Ihrem Körper tragen, so sagen es die Trendforscher. Beim Eintritt ins Ladengeschäft fragt man Sie bloss noch nach der persönlichen IP-Adresse, denn diese wird wichtiger als Ihr Name oder Ihre AHV-Nummer. Die ständige Ortung per GPS-Handy wird in den USA bereits nächstes Jahr zum Standard und damit sind wir dem "gläsernen Menschen" einen ganz entscheidenden und auch gefährlichen Schritt näher. Die Kosten für Web-Zugang, Hardware und Telefonitis werden bis auf gratis sinken, so dass Sie dann wieder mehr Geld für E-Shopping haben. Andere sagen voraus, dass die amerikanische Dot-Com Pleitewelle eine globale Wirtschafts- und Bankenkrise auslösen wird, dies aufgrund der vielen geplatzten Kredite. Und Experten wie auch Politiker befürchten, dass es in der kommenden Informationsgesellschaft eine dramatische gesellschaftliche Zweiteilung (Digital Divide) geben wird: Zwischen den Winners welche sich erfolgreich vernetzen, und den Losers, welche niemals "drin" sein werden und buchstäblich den Anschluss verpassen. Weil sie entweder keinen haben oder diesen nicht zu nutzen wissen. So wie sich mit dem Web alles verbindet, trennt sich anderes wieder. Ist das jetzt die E-volution der Menschheit? Oder sonst irgendein cooles neues Wort.
First Tuesdays und Pre-IPO's, Incubators und Start-Ups, Content Filters und Green Cards... Das Web ist und bleibt der am schnellsten wachsende, interessanteste und auch gnadenloseste Ort der Welt. Dabei sind es immer die Menschen, die mit dem Netz leben müssen. Die Party der Dot-Coms ist vorbei, die nächste Party steht vor der Tür und wir stellen schon mal den Schampus kalt.
Aber was bringt uns jetzt die Zukunft? Schauen Sie doch wieder einmal in den Nachthimmel hinaus und staunen Sie darüber, wie viele Lichtjahre weit Sie eigentlich sehen können: BIS ZU DEN STERNEN.
– Wir wünschen allen Web-Insidern den nötigen Weitblick, einen guten Surf ins 2001 und man sieht sich dann wieder im Internet, gleich hier um die Ecke!
Feedback zum Trendletter "Netzwetter" von Greg Lemmenmeier
Ich freue mich immer wieder auf Ihren Wetterbericht. Die News sind unterhaltsam und auf knappe Weise zusammengefasst. // Patrick Britschgi, Comartis AG
Finde übrigens den Newsletter einen der besten. // Julian Karrer, Future Connection AG
mit interesse lese ich jeweils das "netzwetter" - einer der besten newsletter den ich kenne - kurz, aktuell und spannend geschrieben. // gregory schick, burgdorf
Monatlich neu: Netzwetter bringt Trends im Web - Netzwetter - Der relativ bekannte Webdesigner Greg Lemmenmeier hat für die Szenenteilnehmer mit zuwenig Zeit um tägliche News zu lesen, einen monatlichen Trend- und Newsletter zusammengestellt. Dieser erscheint ab sofort jeden 25. Tag im Monat, Online und per Mail. Darin stehen die wichtigsten Highlights in wenigen Worten, der ganze Letter hat nur rund 2 bis 3 A4 Seiten. Der erste ist zwecks Nachfassungen etwas grösser ausgefallen, in Zukunft soll Netzwetter einfach die aktuelle Lage kurz aufzeigen. // newsBYTE.ch (damals die führende Webnews-Plattform im CH-Web)
Texte nach wie vor sack stark....Du bist wirklich SUPER im schreiben. // Patrick Kobel, Projektleiter webservices111.ch, creativeagent.ch
• Posted on 26. December 2000 at 12:00 ▶ 10081 Views ≡ Category: Web Development
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